Bad Idea

© 2009 Michaele Gruen
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Todesfälle, Love for(n)ever

Irgendwie wirken so viele Bäume unter einem Glasdach unwirklich. Die Blätter sind zu dunkel, ob die echt sind? Gedankenverloren starrte Sabine ins grüne Nichts. Die Stimmen der anderen Gäste verschwammen zu einem hallenden Echo. 

Hier saß sie nun, mitten in Köln, zwischen all den anderen Menschen, lachend, redend oder schweigend. Ihr gegenüber, den hübschen Kopf leicht über den Bistrotisch vorgebeugt, mit einem entschlossenen Grinsen um den Mund, saß Ruth, ihre beste Freundin. Die sie seit fünfzehn Jahren kannte und auf eine, ihre Reaktion wartete. Die Sonne schien und schickte ihre Strahlen durch die Glaskuppel direkt in Sabines halbleeres Glas und versank als Funken in dem Grauburgunder. Nach einer Antwort suchend, drehte Sabine den Stil des Glases, sodass der Weißwein in sanfte Schwingungen geriet. Mit ihm der Sonnenfunken, was das ganze nicht wirklicher machte. 

Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Aber da saß Ruth, völlig entspannt und drehte ihr glattes, dunkelbraun schimmerndes Haar um ihren Zeigefinger. Ihre Kulleraugen schimmerten sanft mit den Lichtreflexen um die Wette, die Pupille wie ihr Verstand messerscharf und dunkel abgegrenzt. Zierlich, blaue Jeans, Seidenbluse, Jacket. Hübsch, gepflegt, unauffällig. Seit acht Jahren mit Max liiert. Sabine hatte Max nur ein paar Mal gesehen. Er passte zu Ruth, genauso unauffällig. Gesprochen hatten sie kaum, da Max mehr auf sein Handy als auf Ruths beste Freundin achtete. Sabine zuckte mit den Schultern. Es hatte sie nicht sonderlich gestört, da Ruth und sie wie üblich in alten Geschichten versunken waren. Wie jeden Mittwoch, fast immer am gleichen Tisch und das seit vielen Jahren oder schon immer.

»Für wen ist der Mango-Saft?« Die Kellnerin riss Sabine aus ihren Gedanken. ›Für mich bitte‹, antwortete Ruth mit ihrer ruhigen Stimme. Die Kellnerin nickte nur, stellte Ruths Lieblingsgetränk auf den Tisch und nahm das leere Glas mit.

Sabine räusperte sich zweimal, bevor sie sich ihrer Stimme wieder sicher sein konnte. »Ich denke … also… nein, ich halte das für keine gute Idee.«

Ruth lehnte sich entspannt in ihrem Korbstuhl zurück und beobachtete ein wenig belustigt Sabines wechselndes Minenspiel. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte sie Sabine noch nie so verlegen, nach einer Antwort suchend, erlebt. Egal wo, Sabine wirbelte am liebsten im Mittelpunkt des Geschehens und warf mit ihrer ansteckenden Fröhlichkeit um sich. ›Sie ist mein Ruhepool‹, pflegte sie immer zu sagen, wenn andere sie auf ihre untrennbare Freundschaft trotz der Unterschiede ansprachen. Auch äußerlich paßten sie kaum zusammen: Sabine war mindestens zehn Zentimeter größer, sportlich schlank, kurze blonde Haare, braunen Teint und grüne Augen, umrandet mit tief eingearbeiteten Lachgrübchen. Und jetzt saß sie ihr gegenüber, in sich zusammengesunken, verzweifelt nach einer Antwort suchend. Über Ruths Gesicht zog ein Lächeln. 

»Ach, Sabine. Ich sehe das ganz nüchtern. Max bumst vermutlich gerade wieder seine Assistentin und ich hänge in der Warteschleife. Kannst du dir vorstellen, wie blöd ich mir vorkomme? Und ich Idiot denke, gut, kein Sex, er hat ja viel zu tun, der neue Job, wird schon wieder. Treudoof wie ich bin. Nein, wie ich war. Max braucht eine Lektion, die sich gewachsen hat.« Sie schaute Sabine spitzbübisch an. »Ist doch nur für ein paar Tage. Und ich verspreche dir hoch und heilig, dass er niemals erfährt, von wem ich den Positiv-Bescheid habe.« 

Sabine schwieg immer noch. Aber ihr Hirn arbeitete bereits. Es konnte nicht anders. Kein Rätsel war vor ihr sicher, kein Schachspiel verloren, denn sie dachte immer mehrere Schritte voraus. Auch einer der Gründe, warum sie als freie Controllerin so viel Geld verdiente. 

Ruth schaute Sabine direkt in die Augen, sie wusste, dass sie sie jetzt überzeugen musste sonst wäre ihr ganzer Racheplan hinfällig. »Schau mal, es ist doch ganz einfach. Er findet den Bescheid, dass ich HIV-positiv bin. Dann kommt er in Panik. Was tun? Ich bin das Wochenende über in Berlin und nicht erreichbar. Also muss er warten und schwitzen. Ob er mit seiner Assistenten-Tussi spricht? Vermutlich nicht, der Feigling. Ist mir auch egal. Ostermontag haben alle Praxen zu, er kann sich also nicht vor Dienstag testen lassen. Das negative Testergebnis dauert bestimmt ein paar Tage. Solange kann er schwitzen, bis er versteht, dass ich ihn reingelegt habe und nicht HIV-postiv bin.«

Ruth sah, dass sie noch einen drauflegen musste, damit sie Sabine überzeugt hatte. »Sabine, sofern ich zurück bin, werde ich alles aufklären. Es ist ja nicht nur, dass er fremdgeht. Was ist, wenn seinen Assistentin irgendwas hat und er mich dann ansteckt?« Sie schüttelte sich. »Max zieht nie einen Gummi über. Warum also bei ihr, weil er an mich denkt? Dass ich nicht lache! Bitte hilf mir, du berätst so viele Arztpraxen, da muss doch ein kleiner Briefbogen mit Stempelchen und zwei, drei Sätzen kein Problem sein.“ 

Immer noch drehte Sabine ihr Weinglas hin und her, kippte es ein wenig, bis der Weinrest fast über den Glasrand schwappte und sie es schnell an ihre Lippen hob, um den Rest in einem Zug auszutrinken. Mit einem kaum hörbaren Klack stellte sie es schwungvoll auf die Marmorplatte des Tisches. Ein leichtes Lächeln spielte um ihren Mund. »Irgendwie hast du Recht. Du kommst abends kaum raus, weil der Herr Überstunden macht und du zuhause auf ihn warten sollst, während er in seinem Büro herumschwänzelt.« Sie setzte sich aufrecht hin und sah ihre Freundin an. »Du solltest übrigens wirklich einen HIV-Test machen lassen. Nicht, dass er dich tatsächlich angesteckt hat. Bis dahin besorge ich dir deinen falsch-positiven Test.«

Ruths leise geflüstertes Danke überzeugte Sabine endgültig. »Ich bin morgen in Frankfurt. Großlabor. Die machen so viele Bluttests, da kann auch ein kleines Nebenergebnis abfallen. Kein Problem. Aber Ruth, du musst mich unbedingt heraushalten. Das kann mich meinen guten Ruf kosten. Und du klärst die ganze Chose umgehend nach deiner Reise auf. Egal, ob Max sein Ergebnis hat oder nicht. Okay?« 

Ruth nickte erleichtert und angespannt zugleich, drückte fest Sabines Hand und winkte der Kellnerin, um ein weiteres Glas Grauburgunder und einen Mango-Saft zu bestellen.

Quietschend kam der Zug zum Stehen. Ruth öffnete die Tür, ging die zwei Stufen herunter und schaute sich vorsichtig um. Der Bahnhof war voll, wie immer an einem Freitag Abend. Irgendwo grölten FC-Köln-Fans, wahrscheinlich kamen sie gerade aus dem Stadion. Ruths Herz raste. Drei Tage hatte sie nichts von Max gehört und seine Bitten um Rückruf auf ihrer Mailbox ignoriert. Er wusste, mit welchem Zug sie heute nach Hause kommen würde, ob er irgendwo auf sie wartete? Wütend, ängstlich oder doch besorgt? Mitsamt ihrem Rollkoffer drehte sie sich um die eigene Achse. Viele Menschen hasteten umher, rannten von einem Bahnsteig zum anderen. Männer, Frauen, Alte, Junge, Dicke, Dünne, meistens schwarz gekleidet und für Ruth völlig gesichtslos. Aber kein Max. Auf das Hallendach trommelte der Regen. 

Ruth knöpfte langsam ihren Mantel zu und machte sich auf den Weg aus der Bahnhofshalle. Sie würde ein Taxi nehmen. Wahrscheinlich wartete er zu Hause auf sie. Ging auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Wie immer, wenn er nervös war und nicht wusste, wohin mit seiner Energie und seinen Gefühlen. Sie stockte und rammte sich ihren eigenen Rollkoffer in die Hacken. Was, wenn er den Bescheid noch gar nicht gefunden hatte? Oder nicht zu Hause sondern bei dieser Tussi war? Ihr ganzer Racheplan und die grenzenlose Aufregung wären umsonst gewesen, nur damit er ein Wochenende lang vögeln kann!

»Hey, wolln’se nich‘ aussteigen? Macht 23,80.«

Erschreckt fuhr Ruth aus Ihren Gedanken hoch, sie standen bereits vor ihrem Haus. Sie bezahlte das Taxigeld und ging, ohne nach rechts oder links zu schauen, direkt zur Haustür und stand im Flur, bevor der Regen ihren Mantel traf. Der Briefkasten war leer. Max musste also da gewesen sein. 

Schwer atmend hievte sie den Rollkoffer in den dritten Stock. Altbau ohne Aufzug, aber dafür Dachterrasse. Dafür schleppte sie gerne Einkaufstaschen die Treppen hoch. Ruth liebte diese Wohnung mit Blick über Köln. Selbst an Regentagen wie heute und der Wind durch die schlecht isolierten Fenster pfiff, konnte sie sich am Blick auf den Kölner Dom nicht sattsehen. Eins war klar: Er musste raus. Das war ihre Wohnung, er hat sich ins gemachte Nest gesetzt. Soll doch die andere seine Dreckssocken hinter ihm aufräumen. Ihre Wut flammte erneut auf. Sie war verletzt, enttäuscht, beleidigt. Sie fühlte sich benutzt, hässlich und alt. 

»Nein, ich bin im Recht, nicht er!« Ihre wütenden Worte hallten laut im Flur wieder. Schnell öffnete sie ihre Wohnungstür und blieb lauschend auf dem Fußabtreter stehen. 

Es war zu ruhig. Keine Musik, kein Computerrauschen, nicht mal der Verkehrslärm von außen drang in die in gelbes Licht getauchte Wohnung. Stickig war es auch. Ungläubig schaute sie sich um und die Enttäuschung trieb ihr Tränen in die Augen. Der Schweinehund war gar nicht da. 

Sie ließ den Koffer stehen, wo sie war und ging prüfend durch alle Zimmer. Das Bett im Schlafzimmer war unberührt und die Rollladen herunter gelassen. Nur die Schlitze darin ließen etwas Licht von den Straßenlaternen durch. Die gelben, zugezogenen Vorhänge wirkten, als wenn sie während ihrer Abwesenheit nicht mal berührt wurden. Prüfend wanderten ihre Augen im Uhrzeigersinn durch den gesamten Raum. Alles war unverändert, auf dem Glastisch hatte sich leichter Staub abgesetzt. Nur der Schreibtisch zeigte Spuren von Leben. Sofern man Papierhaufen Leben zusprechen konnte. 

Mechanisch ging sie darauf zu und suchte nach dem Umschlag des Großlabors. Da lag er, papierbraun und faltenfrei. »Er hat den Brief nicht gefunden. Alles umsonst. Scheiße nochmal.« Schrie sie den Umschlag an, bevor sie ihn in ihre Manteltasche stopfte. Sie brauchte was zu trinken. Auf dem Weg zur Küche drehte sie alle Heizkörper auf, die ganze Wohnung war kalt wie in einer Gruft.

Auch die Küche wirkte völlig unberührt, die Stühle stand so, als wären sie gerade erst und nicht vor drei Tagen zur Seite geschoben worden. Selbst die Karaffe Mango-Saft stand noch auf dem Tisch. Sie setzte sich auf den wackeligen Holzstuhl, den Max voller Begeisterung vor einem Jahr auf dem Flohmarkt erstanden hatte und seitdem immer wieder versprich, ihn endlich zu reparieren. Sie starrte auf die Karaffe. So viele Versprechen. Sie war es leid. Auch ihren Racheplan. Sie würde die Wohnungsschlüssel austauschen und zum Heulen bei Sabine unterkriechen. Auch andere Mütter hatten schöne Söhne. 

Bei dem Gedanken an den Spruch ihrer Oma lächelte sie schon wieder. Ihr Mund war völlig ausgedörrt. Sie musste dringend etwas trinken und die nächsten Schritte überlegen. 

Der Brief knisterte in ihrer Manteltasche, als sie sich über den Tisch beugte, um die Karaffe heranzuziehen. Sie hätte auf Sabine hören sollen. Die ganze HIV-Test-Idee war kindisch. Sie hätte Max zur Rede stellen sollen. Wie es Erwachsene tun. Mit ihren Zehen schnippte sie sich ihre Pumps von den Füßen und streckte ihre Zehen. Acht Jahre wirft man nicht einfach weg.

Das glucksende Geräusch des Mango-Saftes, der ihre Kehle herunter strömte, beruhigte ihr rasendes Herz. Ein bisschen bitter war er schon. ›Hat wohl ein wenig gelitten, so drei Tage ohne Kühlschrank. Was soll’s‹, dachte sie und lehnte sich gegen die Stuhllehne.

Erschöpft zog sie den Laborbescheid aus der Manteltasche und überflog gelangweilt die einleitende Erklärung, während sie ihr zweites Glas trank. 

Aids-Test für Ruth Schneider, wohnhaft blablablabla  Dann drehte sie das Blatt um und Max Handschrift stach ihr in die Augen. 

…dass du mir das antun konntest. Von wem hast du das? Du betrügst mich doch schon seit Jahren, aber so billig kommst du mir nicht davon! Ich habe schon in deinem Büro angerufen und alles erzählt. Und dass du abgehauen bist. Weil du es nicht ertragen kannst. Hat dir dein Mango-Saft geschmeckt? Es war gar nicht so einfach, das Gift zu bekommen. Das Telefon ist übrigens abgestellt. Bemüh‘ dich nicht. Ich finde dich früh genug. Nur für dich zu spät.

Einzelne Buchstaben verschwamm vor Ruths Augen, andere hüpften einfach auf und ab. Langsam schwebte der Brief Richtung Boden. In Zeitlupe verfolgte sie die Bewegung des Papiers von links nach rechts nach links nach rechts, der Stuhl wackelte mehr wie sonst und sie fiel rutschend auf die Knie. ›Aua‹, doch der Gedanke war genauso kraftlos wie ihre beiden Ellbogen, auf die sie fiel, so wie ihr Kopf. Sie spürte den in Wellen kommenden Krampf kaum, als sie wie der Karpfen bei ihrem Lieblingsitaliener nach Luft schnappte. Weißer Schaum lief in hohlen Tropfen aus ihrem Mund und bildete ein seltsames Muster auf den schwarz-weißen Kacheln des Küchenfußbodens. Dann war es still. Zu still.