Am achten Tag
© 2016 Michaele Gruen
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Neben der Spur
Wie ging der Spruch nochmal? Ich weiß es nicht mehr. Außerdem ist heute erst der dritte und morgen bereits der vierte Tag. Demnach war gestern der zweite und doch muss ich immer an den ersten Tag denken, während ich dir beim Schlafen zuschaue.
Ist es wirklich schon 20 Jahre her, dass du, deutlich kleiner und ohne Bartstoppeln, in deinem Kinderbett geschlafen hast? Die Augenlider leicht geschwollen mit Wimpern so lang, dass ich mich fragte, welches Mädel dem widerstehen könnte. Heute weiß ich, dass es einige nicht geschafft haben.
Werden wir jemals erfahren, was du am ersten Tag vergessen hattest? Und was wäre passiert, wenn du nicht deswegen zurück gefahren wärst? Nichts? Oder wäre ein anderes Auto um die Ecke gekommen, hätte dich von der Straße geblendet und in einen Wirbel aus Blech, Bäumen und Straßenbelag geschleudert? Was wäre wenn, ja wenn…
Wieso ist der auf meiner Straßenseite? Scheiße ich seh’ nichts.
Dieses Was-wäre-wenn-Gedankenspiel hat mir noch nie gefallen. Schon als Kind wurde ich wütend, wenn ich mir über Sachen Gedanken machen sollte, die nicht geschehen werden. Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär und du in deinem eigenen Bett mit Augenlidern, die nicht gegen das grelle Licht der Intensivstation ankämpfen mussten. Wenn sie denn wollten.
Tun sie aber nicht.
Der Anruf kam am ersten Tag, wenn auch erst Stunden später. Der Anruf, vor dem man sich immer fürchtet und der sich doch harmlos anhört. Harmlos, weil es nur eine Gehirnerschütterung und Rückenschmerzen sind. Harmlos, weil alles andere keine Option ist. Alles wird gut, geh‘ schlafen, morgen ist Zeit genug für mehr Fragen.
Die reden dummes Zeug, mir geht es gut, nur was schwindlig. Alles verzerrt.
Nein, so ganz geglaubt habe ich es nicht, aber mitten in der Nacht ist man hilflos, kein Mensch mag übermütterliche Fragen hören. Und wer will schon an das glauben, was sonst nur den Anderen passiert, was weit weg in irgendeiner Zeitung steht.
Diesmal ist es nicht den Anderen passiert. Diesmal hat mein Telefon geklingelt, während ich zwischen den Maschinen stehe, mit dem Produktionsleiter scherze und sich die Worte immer näher durch das Handy in mein Herz schleichen. Worte aus fremden Realitäten, die ich nie in einem Satz mit dir hören wollte. Worte wie Hirnblutung und Not-OP und dass du jung genug bist.
Jung genug wofür?
Die Lichter surren so grell. Wo bin ich? Was sind das für Töne? Worte?
Jetzt waren sie da. Jetzt, am zweiten Tag, während ich vor der Intensiv-Station stehe und warte. Ein Zustand, an den ich mich auch am dritten Tag noch nicht gewöhnt habe. Ironischerweise habe ich nur wenige Stunden vor dem Moment, als du aus der Kurve geflogen bist, mal wieder erklärt, dass ich vieles kann, nur nicht warten. Und alle haben gelacht, weil sie meine Ungeduld kennen und die Hummeln, die mich immer umtreiben.
Heute ist der dritte Tag voller Warten und ich denke zurück an den Moment vor der OP-Doppeltür mit den zerkratzten Schutzblechen. Zerkratzt von dagegen stoßenden Betten mit schlafenden Menschen. An die unterdrückte Panik-Attacke, weil kein Bett mit dir dadrin diese Doppeltür aufschwingen ließ, während ich mein erstarrtes Spielbild in den dunstigen Scheiben beobachtete.
Wo seid ihr?
An die leeren Momente, wenn wieder eine von vielen WhatsApps die Runde machte. Statusmeldungen an eine Welt, die nicht still steht. Nicht wie ich mit Blick nach draußen auf Bäume im Dämmerlicht morgens um halb zehn. Ob du mich gehört hast? Ich habe dich in meinen Gedanken angeschrien. So lange und so laut, bis das Echo mich in die Welt zurück geholt und seltsam ruhig gemacht hat, weil du trotz meiner Schreie ruhig geblieben bist. Vor meinem inneren Auge lagst du auf einem Bett, völlig entspannt, lächelnd und ich hoffte, dass es von dieser Welt war.
Ich bin allein. Sind das Schatten? Nur meine.
Ich betrat diese Welt voller Schläuche, blinkender Lichter, bunter Zahlen und elektrischer Geräusche, die jetzt deine war. Leises Piepsen, Dauer-Piepsen, schrilles Piepsen, Handy-Piepsen. Piepsen vom Flur, aus dem Nachbar-Zimmer, aus den Geräten über deinem Kopf in dem dicken Verband mit dem Schlauch, an dessen anderem Ende sich Blut in einem Gefäß versammelte.
Dein Blut.
Ich habe die Schläuche nicht gezählt, aber ein halbes Dutzend waren es mindestens. Die langen Wimpern kleben an deinen Wangen und ich weiß um die Pupillen unter den geschlossenen Augenlidern in stechender Stecknadelkopfgröße. Deine Temperatur ist hoch, nur ein kurzes Tuch bedeckt dich und dein Brustkorb hebt sich im kalten Schweiß regelmäßig unter der luftigen Kraft des dicksten Schlauches im gleichmäßigen Rhythmus.
Deine Füße sind so kalt.
Ich schaue mir die Fotos von dem völlig zerquetschten Auto an und frage mich, wo diese Füße noch Platz hatten.
Die Schatten halten mich gefangen. Ich kann erst fliehen, wenn die Lichter nicht mehr surren. Es sind zu viele.
Jetzt ist der vierte Tag und die Stunden an deinem Bett vergehen wie im Flug. Warten ist relativ. Warten ohne Sinn ist lang. Warten und dich dabei atmen sehen zu können, ist nicht lang. Ich sehe deinen Blutdruck steigen, wenn geredet wird oder auch, wenn ich was vorlese. Beim letzten Kapitel bist du tiefer eingeschlafen und ich frage mich, ob du mir später verzeihen wirst, dass ich kein blutiges Fantasy-Drama sondern ein Literaturpreis-Buch gewählt habe. Ich lächle bei dem Gedanken an deinen genervten Augenaufschlag und daran, dass es kein neues Blut gibt. Weder im Buch, noch in dem Sammeltopf. Es ist so friedlich zwischen all dem Piepsen und Lichtern und es fällt mir schwer, nach Hause zu fahren.
Wie schnell man einer Routine, dem täglichen Rhythmus verfällt. Schlafen, aufwachen, aufstehen, das Krankenhaus anrufen. Darf ich kommen? Ja, kommen Sie, er ist unruhig. Ich lächele. Du bist unruhig geboren, warum sollte sich das geändert haben.
Alles tut weh, die haben mich gefoltert. Ich muss mich freikämpfen. Später.
Die Strecke fährt sich im Schlaf, die Gedanken kreisen, der Parkplatz ist zu voll und am Straßenrand liegt Schneematsch. Der gewohnte Gang zur Intensivstation, ein „Guten Morgen“ an die eilig zwischen den Zimmern huschenden Gesichter und schon stehe ich an deinem Bett. Sehe die Zahlen, blinkenden Lichter, höre das Piepsen, alles normal, alles wie gehabt. Der Krankenpfleger kommt, die Ärzte machen ihre Runde und wir unterhalten uns. Über dich, die letzte Nacht, das Wetter, über dich. Die Luft draußen ist dämmrig und kalt, hier drin riecht es nach Desinfektionsmitteln. Ich schlage mein Buch auf und fange laut an zu lesen.
Wovon reden die, Löcher? Was für Löcher? Löcher von hier weg oder Löcher ins Dunkle? Wo lang muss ich gehen? Ich versteh euch nicht. Ich hab Angst.
Morgen ist der sechste Tag und du sollst erwachen.
Dein Körper erwacht. Er wehrt sich gegen den Beatmungsschlauch und bäumt sich auf. Ich halte deine Hand, aber es kommt kein Druck. Dein linkes Bein stellt sich auf, die linke Hand zuckt. Rechts passiert nichts, dein Gehirn hat diese Seite noch nicht gefunden. Dein erstes, trotziges Lebenszeichen treibt mir lauthals die Tränen in die Augen und der Krankenpfleger weist mich zurecht, dass du keinen Stress gebrauchen kannst. Ruhe ist die Devise, also bin ich ruhig und froh, dass kein Monitor mein hüpfendes Herz verrät.
Grell. Laut. Wand. Loch. Licht. Schmerz.
Irgendwann öffnest du kurz die Augen und dein milchiger Blick mit dem dunklen Punkt in der Mitte sieht nichts. Dann wieder Ruhe. Bis zum nächsten Aufbäumen. Draußen ist es schon lange dunkel. Morgen ist ein neuer Tag, wir haben Zeit.
Heute ist morgen und alles wartet auf dich.
In der Luft draußen schläft der Schnee und die Luft aus dem Beatmungsgerät wird reduziert. Sie wollen dich ärgern, du sollst wach werden, kämpfen, du gehörst in unsere Welt, nicht in diese Traumwelt, in der die einzige Verbindung die Monitore sind. Du atmest mit, ein bisschen zumindest, wozu anstrengen, du hast noch Wichtigeres zu tun. Deine Augen öffnen sich, heute, am siebten Tag und es ist ein wunderbarer Morgen.
Milchig, dann klar und plötzlich fokussiert.
Bist du das? Holst du mich raus?
Ich rufe dich, der Krankenpfleger ruft dich, die Ärztin auch. Du guckst mich an, fragend. Dann geht dein Blick zum Krankenpfleger und wirkt konzentriert.
„Wissen Sie wo Sie sind? Wenn ja, blinzeln Sie.“ Du blinzelst, du konntest noch nie gut lügen. „Sie sind im Krankenhaus. Sie hatten einen Unfall.“ Du blinzelst. Dein Blick wandert zu mir, die Augenlider fallen wieder zu, du drückst meine Hand und hältst sie fest. Du schläfst wieder ein, aber der Monitor verrät dich, ganz weg bist du nicht, du willst zurück. Deine Hand drückt wieder zu und tastet sich hoch bis zu meinem Kopf, um ihn runter zu ziehen und festzuhalten. Suchst du mich? Tröstest du mich?
Verkehrte Welt.
Wo sind die Löcher?
Lachende Welt.
Bring mich nach Hause.
Der Arzt hat uns gewarnt. Dir werden Worte fehlen. Erinnerungen. Dein Name. Du wirst Aussetzer haben, du wirst dich anders verhalten in den nächsten Wochen, in denen sich dein Gehirn an andere Umstände gewöhnen und Umwege um die ausgetretenen Pfade finden muss. In denen sich die Drogen, die dich die letzten Tage am Schlafen gehalten habe, verflüchtigen.
Dann kommt das, was sie dir in den Filmen verschweigen. Wenn sich deine Augen von sanft in kalt verändern, weil du den Schlauch rausziehen willst, der dich am Atmen hält.
Lass mich. Die wollen mich umbringen. Siehst du das nicht?
Oder die Magensonde, die deine Atemwege vor dem Mageninhalt sichern muss. Wenn deine Augen dann aufgeben und sich verzweifelt schließen, während dein Körper sich aufbäumt, immer wieder. Jetzt willst du selber atmen und der Beatmungsschlauch darf endlich raus. Das erste Wort krächzt in meinen Ohren, und nein, ich weiß nicht mehr, welches es war. Aber ich weiß, dass sich deine rechte Hand bewegt hat. Zittrig, schwach, vielleicht nur einen Zentimeter. Aber dein Gehirn hat sie wiedergefunden, schickt Befehle und Kraft, überstimmt deinen Schlaf.
Du willst dich bewegen, du willst die Schläuche loswerden. Ich halte dich fest und rede auf dich ein, erkläre, immer wieder, bist du aufs Neue verstehst, dass du das nicht darfst. Erschöpfst schläfst du ein und der Kreislauf beginnt von neuem wie das Erinnern von Neuem beginnen muss.
Hilf mir doch, ich schaffe es nicht allein.
Heute, am achten Tag, bist du wieder wach. Du redest, mal wirr, mal nicht. Du erinnerst dich, mal nicht. Du fragst mich, warum ich nur einmal da war und ich sage, dass ich die ganze Zeit da war.
Ist das dann nur einmal?
Dein Bruder kommt und du salutierst mit deiner rechten Hand den üblich-coolen Gruß. Die andere Hand nutzt du, um die Magensonde zu ziehen.
Woher nimmst du die Kraft, dich gegen meine zu wehren? Ich weiß es nicht. Wir müssen dich wieder fixieren und ich weiß nicht, ob du mir das verzeihen wirst. Es ist nur, bis du verstehst, aber deine Augen sagen das Gegenteil.
Morgen hältst du mich wieder fest.
Morgen halte ich dich wieder fest.
In der Nacht bist du aufgestanden. Trotz zwei angebrochener Wirbel, trotz der fast bewegungslosen rechten Seite. Du bist aufgestanden und hingefallen. Jetzt hast du vier angebrochene Wirbel und ein paar extra Tage auf der Intensivstation. Aber du lebst und bewegst dich. Du denkst und regenerierst dich.
Gestern war der achte Tag, an dem du zu uns zurückgekommen bist.
Heute ist der neunte Tag und dein Leben beginnt aufs Neue.
Danke Welt.
*
Der achte Tag. Für uns aber ist ein neuer Tag angebrochen: der Tag der Auferstehung Christi. Der siebte Tag vollendet die erste Schöpfung. Am achten Tag beginnt die Neuschöpfung. So gipfelt das Schöpfungswerk im noch größeren Werk der Erlösung. Die erste Schöpfung findet ihren Sinn und Höhepunkt in der Neuschöpfung in Christus, welche die erste an Glanz übertrifft. (Quelle: Katechismus der katholischen Kirche, 349)
Die Zahl Acht symbolisiert einen Neuanfang. Der achte Tag der Woche, ist der Tag nach dem Sabbat. Da wird von Neuem gearbeitet. An diesem Wochentag ist Jesus auferstanden. Mit IHM hat Gott wiederum etwas Neues geschaffen. (Quelle: luziusschneider.com/Papers/JuedischeFeste.htm)