Terradisto
Cece und das Geheimnis der alten Dame (Saga der Erdlinge, Band 1)
© 2025 Michaele Gruen
Kategorien
Urban Fantasy, Coming of Age
Cecilia Braun
Wolkling, 15 Jahre, Schülerin
Vorsichtig setzte sich Cecilia auf einen alten Stuhl, der vergessen in einer Ecke auf dem Dachboden stand. Die gewebte Sitzfläche knirschte verdächtig, was ihr im Moment völlig egal war. Müde starrte sie auf alte Kartons und schloss gedankenverloren die Augen.
Nur noch eine Woche Ferien und sie fragte sich zum wiederholten Male, ob sie sich auf die Schule freuen sollte oder nicht. Ihre Familie war erst vor zwei Monaten nach Bonn gezogen, genauer gesagt in die Peripherie von Bonn, nach Lengsdorf. Dieses Dorf erschien ihr wie ein Kaff , fast vergessen am Stadtrand, und im Vergleich zu Köln ganz schön ländlich. Durch die Dachluke hörte sie leises Vogelzwitschern und die Stimmen der Gesellen, die den Hanomag beluden, Papas ganzer Stolz. Der Motor brummte bereits und sonst war kein Auto zu hören. Was für ein Unterschied zu Köln.
Den Verkehrslärm vermisste sie bestimmt nicht, ebenso wenig ihre alte Schule. Erinnerungen an Jenny schwirrten durch ihren Kopf. Jenny mit den vielen Sommersprossen und ihre ehemals beste Freundin, bis diese sich der Clique um Susan anschloss und nur noch über Klamotten, Jungs und die neuesten Diäten sprach.
Anfangs wollte sie dazu gehören, kaufte sich die Bravo, hing Starschnitte an ihre Wand und eiferte den Supermodels nach. Bis es nicht mehr ging. Traurig schob sie ein paar ihrer dunklen Haarsträhnen, die wie üblich ihrem straff gebundenen Pferdeschwanz entwichen waren, hinter das Ohr.
Als sich ihre Eltern dazu entschieden hatten, das Haus neben Vaters Werkstatt zu kaufen, überfiel sie Panik. Weg von Köln, von der Anonymität, in der man sich so wunderbar verstecken konnte. Weg von bekannten Ritualen einer Großstadt hin zu einem Dorf, in dem jeder sie kennen würde. In Lengsdorf war sie die Tochter der Glaserei Braun und alle schienen das zu wissen. Ihr Vater hatte die Glaserei vor einigen Jahren gekauft und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie nachziehen würden.
Sie seufzte. Egal wohin sie ging, zum Bäcker, zu Edeka oder selbst in das kleine Schreibwarengeschäft, jeder sprach sie mit Namen an und fragte nach ihren Eltern, als wenn sie ein Recht auf ihre Familie hätten.
Auf der anderen Seite war sie ein unbeschriebenes Blatt für die Lengsdorfer. Sie konnte sie selbst sein und nicht nur ein Abziehbild von Susan und ihren Bewunderern. Auch wenn ihr nicht klar war, wohin dies führen würde.
Sie betrachtete die wartenden Kartons mit einem immer müder werdenden Blick und stand mit einem kleinen Seufzer von dem wackeligen Stuhl auf. Sie durfte nicht in der Vergangenheit versinken, sie musste fertig werden. Entschlossen öffnete sie das Dachlukenfenster, indem sie den metallstumpfen Hebel quietschend nach oben schob. Die hereinströmende Luft ließ den Staub frisch erholt aufwirbeln, der während ihrer Grübelei zur Ruhe gekommen war.
Der nächste Karton enthielt Federbälle und gelb verblasste Tennisbälle. Sie grinste bei der Erinnerung an ihre erste Woche hier in Lengsdorf. Ihre Mutter hatte ohne ihr Wissen eine Probestunde im hiesigen Tennisklub vereinbart. Schon der Anblick der anderen Mädchen, die kichernd vor dem Bistro saßen, mit ihren weißen Röcken und Tennisschuhen, die zu sauber für den roten Ascheplatz waren, ließ sie nichts Gutes vermuten. Sie fühlte deren Schnell‑Check wie einen Scanner über ihren Körper fließen und wusste sofort, dass sie mit ihrer engen, dunkelblauen Jogginghose und dem labbrigen weißen T‑Shirt durchgefallen war. Auch ihre Mutter hatte die prüfenden Mienen der Mädchen gesehen und ein Blick in Cecilias panische Augen ließ sie umdrehen.
»Du hast recht, das brauchen wir nicht noch mal.« Sie nahm Cecilia in den Arm und ohne ein weiteres Wort gingen sie zurück zum Auto.
Der Parkplatz war hoch gelegen und ermöglichte einen freien Blick auf die tiefer liegenden Felder. In den geradlinigen, dunkelbraunen Erdfurchen strebten erste Pflanzenstiele der Aprilsonne entgegen. Der rote Sportplatz lag gut erkennbar hinter den bearbeiteten Flächen sowie einigen Bäumen. Ihre Mutter stupste Cecilia mit einem breiten Grinsen im Gesicht
an.
»Lass uns heute Abend ein paar Runden laufen. Hast du Lust?«
Natürlich hatte sie Lust. Laufen hatte sie gerettet. Vor Susan mitsamt der kichernden Mädchenclique. Und vor Jenny. Cecilia schüttelte die Gedanken an die Geschehnisse im letzten Jahr ab, sah auf die weiterhin wartenden Kartons und ihre staubigen Hände, die zerrissene Jeans und das nicht mehr ganz so saubere T‑Shirt. Ihre Mutter hatte sich eindeutig geäußert. Erst wenn alle Kartons in dem Container entsorgt waren, durfte sie aufhören.
Die Sonne warf ihr Licht durch die nicht isolierten Dachpfannen und die Staubwirbel tanzten auffordernd um ihre bunt bestrumpften Füße. In Gedanken an das versprochene Eis schubste sie die nächsten drei Kartons so schwungvoll in Richtung Dachbodenleiter, dass diese polternd und hüpfend die Stufen runterfielen. Bis auf den dritten, den Cecilia gerade noch festhalten konnte.
Während sie auf den genervten Schrei ihrer Mutter wartete, löste sich der Kartonboden in pappige Fetzen auf. Alte Zeitungen, ein zerfleddertes Pflanzenbuch sowie eine schwarze, an den Ecken aufgeraute Kladde fielen ihr vor die Füße.
Neugierig bückte sie sich nach der Kladde, die nur durch ein angegrautes Gummiband vor dem Auseinanderfallen gehindert wurde. War das etwa ein Tagebuch? Von der Vorbesitzerin? Cecilia wusste von ihren Eltern, dass vor ihnen eine ältere Dame allein in dem Haus gelebt hat. Sie hatte kaum Kontakt zu den Dorfbewohnern und wohl auch keine Familie. Als sie starb, stand das Haus eine Weile leer, bis irgendein entfernter Verwandter es zum Verkauf anbot, ohne es vorher überhaupt gesehen zu haben. Cecilias Vater hat gleich zugeschlagen, da es direkt neben der Glaserei stand und perfekt als Wohnhaus und Büro war.
In dem Büro kümmerte sich Cecilias Mutter um alles Geschäftliche und konnte sich, falls nötig, zwischendurch ausruhen. Sie hatte gerade eine Brust‑OP überstanden und erholte sich nur langsam, was auch an der Chemo lag.
Um nicht wieder in Grübelei zu verfallen, öffnete Cecilia die Kladde. Reste eines zerfallenen Pflanzenteils bröckelten heraus und vermengten sich mit den Zeitungen zu ihren Füßen. Vorsichtig blätterte sie durch die vergilbten Seiten und hielt sie in das spärliche Licht, das durch das Dachfenster fiel. Irgendwelche Tabellen, dicht beschrieben, wie in einem Schulheft. Enttäuscht klappte sie die Kladde wieder zu und wollte es schon zu dem Papierstapel werfen, als sie eine seltsame Prägung auf dem Deckel bemerkte. Es war weder ein Logo, noch war es maschinell eingeprägt. Die Rillen hatte ein Mensch eingeritzt und er oder sie schien sich damit viel Mühe gegeben zu haben, ging es ihr durch den Kopf. Sie hielt es näher an das Dachlukenlicht. Vermutlich ein Symbol, überlegte sie, aber für was?
»Cecilia! Was ist das hier für ein Chaos? Hast du etwa die Kartons runtergeworfen? Das räumst du sofort auf und bitte beeil dich, wir wollen los!« Die Stimme ihrer Mutter klang gestresst, wie so oft in diesen Tagen. Cecilia stöhnte und legte die Kladde auf den Stuhl. Die würde sie sich später genauer ansehen. Schnell kletterte sie rückwärts die Dachbodenleiter hinunter und hörte ihre jüngere Schwester Peppa ein Lied von ABBA summen, während sie die heruntergefallenen Sachen zusammenräumte. Vielleicht schaffte sie heute drei Eiskugeln.
Das Tagebuch
Phase 4-9 : Ebene 0, nach der Ruhe
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