Angel Heart

© 2015 Michaele Gruen
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Cosy Crime

Vom Balkon der Wohnung konnte sie weit über das Messdorfer Feld hinaus blicken. Es war schon nach halb acht, die Sonne schien immer noch mit unbändiger Kraft über die blassblonde Gerste, deren Grannen sich sanft im Wind beugten und sich mit ihren feinen Fäden der Bonner Stadtgrenze entgegenstreckten. Wie angenehm der gleiche Wind durch ihre langen, blonden Haare strich und die feinen Spitzen in der untergehenden Sonne blitzten. Sie streckte ihr Kinn etwas weiter vor und lehnte sich an die Balkonbrüstung im achten Stock, um den letzten warmen Sonnenstrahl aufzufangen. Ihre Augen tränten beim Blick in die Sonne und sie spürte das auf ihrer Wange trocknende Salz, während sie den Moment des Friedens genoss. Sie war erst vier Tage in der Wohnung und fühlte sich der Umgebung bereits so verbunden, dass sie beinah den alten Mann auf dem Nachbarbalkon gegrüßt hätte.

Ele wusste, dass er einen alten Hund mit grau meliertem, verfilztem Fell hatte, weil sie beide heute Mittag im Aufzug getroffen hatte. Der alte Mann starrte sie im halbblinden Aufzugsspiegel unverfroren an, als wenn sie nur ein Bild wäre. Erst ihre Beine, die aus blumigen Shorts lugten, dann immer weiter nach oben, Zentimeter für Zentimeter. Er hatte acht Stockwerke lang Zeit. Kurz vor ihren Augen hielt sein Blick an und fiel auf die eigenen Füße. Kaum hörbar grummelte er sein Hallo durch den graustoppeligen Bart. Der Hund dagegen hob nicht einmal seinen schweren Kopf, seine Lefzen wackelten über ihren grünlackierten Zehen in den ebenfalls grünen Flipflops. Sie senkte angeekelt ihren Blick, und sah die dicken Speichelflecken aus dem hechelnden Maul auf dem Gummiboden des Aufzugs zerplatzten. Der Hund stank.

Ihr Hals fühlte sich trocken an, sie hatte lange nichts getrunken. Das passierte ihr häufig während der Arbeit. Seufzend löste sie sich von der Abendsonne und ging zurück in die Wohnung. Sie mochte den Anblick der offenen Küche und holte sich ein Glas aus der Spülmaschine hinter der Theke. Das Wasser lief sprudelnd aus dem Wasserhahn und war erfrischend kalt. Sie leerte es in einem Zug, spülte es sorgfältig, besonders die Ränder, und stellte es zurück in die Spülmaschine. Die frischen Flecken im Spülbecken wischte sie mit einem Kleenex ab, das sie sogleich in der Plastiktüte entsorgte, die an einem Haken nahe der Wohnungstür auf sie zu warten schien.

Der typische facebook-Plopp ließ Ele zu ihrem Laptop schauen. Wie freundlich er in seinem fröhlichem Pink neben dem dunklen Grau des Desktop-Rechners wirkte. Sie schnappte sich die Plastiktüte mit den Kleenex-Tüchern und einer angefangenen Chips-Tüte und trug sie zu dem weißen Schreibtisch. Prüfend fiel ihr Blick auf die sechs Stapel beschriebener Notizblätter und verinnerlichte sich kurz die Systematik. Im Uhrzeigersinn deckte jeder Stapel einen Wohnungsbereich ab. Angefangen beim Schlafzimmer, dann das Bad, die Küche und das Wohnzimmer. Der fünfte Stapel betraf die Fotokiste, der sechste das Bücherregal und der siebte die CD-Sammlung. Der Ringbuch-Block links von ihrem pinken Laptop führte bereits die ersten vier Wohnbereiche auf, die kreisförmigen Bullets unter jeder Überschrift markierten säuberlich geschriebene Stichwörter, die bereits abgehakt waren.  Bevor sie sich auf den nächsten Bereich konzentrierte, überflog sie noch einmal die abgehakten Stichworte. Zufrieden nickte sie in die menschenleere Wohnung; sie hatte alles bedacht. Ohne weiter Zeit mit Erledigtem zu vergeuden, blätterte sie zur nächsten Seite und schrieb sie in druckreifer, unpersönlicher Blockschrift: ›5 – Fotokiste‹.

Der nächste Plopp ertönte aus ihrem Laptop und sie schaute mäßig interessiert auf das facebook-Bild von Rosa. Rosa wurde immer noch vermisst und eine ihrer facebook-Freundinnen hatte eine Suchanzeige eingestellt. Der nächste, dritte, Plopp war dem 148. Gefällt-mir-Button geschuldet. Sie zuckte mit den Schultern und grinste zu ihrem ungehörten Gedanken. Einhunderachtundvierzig Gefällt-mir-Buttons dafür, das Rosa immer noch vermisst wurde? War das der soziale oder asoziale Anteil der Sozialen Medien? Wie viele  Gefällt-mir-Buttons werden wohl gedrückt, wenn ihre Todesanzeige erscheint? Das Grinsen zog sich nach unten, nicht unfreundlich, nur nichtssagend und auf die nächste Aufgabe konzentriert. Ihr Resting Bitch Face, wie es eine Freundin mal ausdrückte, die nicht mehr ihre Freundin war. Ele setzte ihren ersten Bullet unter die Überschrift ›5 – Fotokiste‹.

Die Fotokiste selbst stand zu ihren Füßen und war nicht größer als eine Schuhbox Größe 36. Mit geübten Blick schätzte sie den Inhalt auf fünfzehn, maximal zwanzig Fotos. Das war ein gutes Mittelmaß in Zeiten, wo jeder ein Smartphone in der Hosentasche mit sich trug. Mit ihrem Bleistift hob sie das oberste Foto mit drei unscharfen Typen samt Surfbrettern an. In der Mitte erkannte sie Thomas. Dann drehte sie das Foto geschickt um, fand aber keine Widmung auf der Rückseite. Das nächste Foto sah schon interessanter aus. Thomas Arm in Arm mit einer älteren Frau, vermutlich seine Mutter. Auf der Rückseite diesmal eine Widmung ›Alles Gute zu deinem 25. Geburtstag. Bleib gesund. Wir haben dich lieb … 27. Mai 2023.‹ Schnell nahm sie einen neuen Notizzettel und schrieb 27-05-2023 sowie * 27-05-1998 auf. Der erste Zettel für den Fotokisten-Stapel war geschrieben und sie suchte weiter nach Fotos, die ihr mehr über Thomas erzählten. Sorgfältig hob und drehte sie dazu die Fotos einzeln mit ihrem Bleistift um. 

›Oh, ein Hund‹, dachte sie, als das nächste Bild einen Labrador mit flatternden Ohren zeigte, der an einem Sandstrand mit einem Stock im Maul sprang. Heutzutage hat wohl jeder einen Hund. Sie zögerte und hielt das Foto mehr ins Licht. Ein blonder Labrador. Ob das der gleiche war, der mit im Auto saß. Hatte Thomas den Namen genannt oder hatte sie es vergessen? Nachdenklich lehnte sie sich in dem Schreibtischstuhl zurück und versuchte sich zu erinnern.

Sie hatten sich auf dem Uni-Parkplatz in Heidelberg getroffen. Laut Mitfahrzentrale sollten noch zwei weitere Personen in Thomas’ VW Golf mitfahren, insgesamt also vier. Doch hinter Thomas entdeckte sie nur einen weiteren Mitfahrer. Der jedoch mit stattlichem Bauch, einem grauseligen Vollbart und ein am Saum ausgefranstes T-Shirt, das jedem sagte, dass er  2014 beim Schandmaul-Konzert war. Dem Geruch nach zu schließen, hatte er es seitdem auch nicht mehr gewaschen. Er nickte ihr kurz zu und wippte ansonsten ungerührt weiter zu irgendeiner Musik aus seinen riesigen Over-Ear-Kopfhörern. 

Sie klopfte lächelnd gegen das Beifahrerfenster und setzte sich, auf Thomas’ erleichtertes Grinsen hin, auf den freien Vordersitz. »Hi, du bist Thomas, richtig? Ich bin Ele. Danke, dass du mich mitnimmst. Ich hätte sonst echt Ärger mit meinen Eltern bekommen.« Ihre blauen Augen strahlten in fröhlich an, ihre rosa geschminkten Lippen öffneten sich leicht und zeigten perfekte Zähne. Sie konnte an der Farbe seiner Augen sehen, wie das Testosteron durch seinen Körper raste, und sein dunkler werdender Blick sie komplett in Augenschein nahm. 

Zufrieden über diesen netten Beifang, zwinkerte er ihr zu. »Schnall dich besser an. Sonst krieg ich noch Ärger mit deinem Papa.« Thomas legte den Gang ein. »Und kümmere dich nicht um Matz, der ist total zugedröhnt und wird uns nicht vor Rüsselsheim stören. Was hältst du von den Beatsticks? Ich hab das neue Album runtergeladen.« Damit drückte er auf den Play-Button seines Smartphones und aus den Boxen ertönten die ersten Klänge von Everything went black.

Die Musik hob das verlegene Schweigen auf eine vertraute Ebene. Es dauerte nicht lange und Ele hörte zwischen den Songs ein raues Schnarchen von der Rückbank. Allerdings nicht von Matz, der weiterhin unbeeindruckt von der Außenwelt seiner eigenen Musik mit geschlossenen Augen folgte. Irritiert versuchten ihre Ohren das Schnarchen zu orten. Dabei war der Labrador auf der Rückbank kaum zu übersehen, da er seinen Kopf auf ein Bein von Matz abgelegt hatte und friedlich vor sich hin schnarchte. Vermutlich stank auch gar nicht das T-Shirt, sondern der Hund. Sie drehte sich wieder nach vorne. »Wem gehört denn der Hund?« 

Thomas schaute gerade in den Seitenspiegel, da er die Spur wechselte. »Das ist Bombadil. Der gehört mir. Hab ihn schon seit acht Jahren. Ist das okay oder hast du eine Hundeallergie oder sowas?« Thomas schaute Ele fragend an, aber die schüttelte langsam den Kopf. Auch weil die Frage zu spät kam.

»Nein, keine Hundeallergie, aber ganz schön Respekt. Ich bin schon mal gebissen worden.« 

Thomas lachte unbeeindruckt. »Mach dir keine Sorgen, der steht nicht auf Blondinen. Das ist ein Labrador, wenn du dem was zu fressen gibst, macht er alles für dich.« Zur Bestätigung griff er nach hinten und tätschelte Bombadil den Kopf.

›Bombadil … richtig, so hieß der Hund‹, erinnerte sich Ele und notierte sorgfältig den Namen auf einen neuen Zettel, legte ihn auf den Fotokiste-Stapel und flippte mit dem Bleistift durch die weiteren Fotos. Auf den meisten war Bombadil zu sehen. Dann wieder irgendwelche Leute auf Surfbrettern irgendwo draußen zwischen Wellen. Ob Typ oder Frau, war nicht zu erkennen. Schnell flippte sie weiter und stoppte erst bei einem Foto, auf dem ein rothaariges Mädchen vor einer Strandbar stand. Auch sie trug diesen unvermeidlichen Neopren-Anzug, das Gesicht mit breitem Grinsen unter den nass verklebten Locken konnte jede sein. Ele beugte sich näher über das Bild und entdeckte ein Plakat am äußeren Rand. Die Schrift war verschwommen, aber noch lesbar: Surf DM St. Girons 2019. Zufrieden schrieb sie St. Girons auf den nächsten Zettel für den Fotokiste-Stapel. Mehr gab die Fotokiste nicht her und ihr Blick schweifte rüber zum Bücherregal, aber auch das schien nicht sehr ergiebig. Hauptsächlich Bücher übers Surfen, zerfleddert und offensichtlich schon mal nass gewesen. Herr Der Ringe, Games of Thrones, jede Menge Reiseführer, die Douglas Adams Bände – erster Zettel mit der Zahl ›42‹ für den Bücher-Stapel – und ein paar Fachbücher über Anatomie, Physiologie und der Pschyrembel.

»Was studierst du eigentlich?« Thomas linke Hand hing locker im Lenkrad und die rechte ruhte auf der Mittelkonsole, nur wenige Zentimeter von Eles Oberschenkel entfernt. Die hell gesonnten Härchen auf seinen Armen bildeten einen schönen Kontrast zu der gebräunten Haut. 

»Wirtschafts- und Organisations-Psychologie. Allerdings, nicht hier.«

 »Aha, wo denn dann?« 

»In München, da sind die Jobs auch besser.« 

Thomas schaute Ele lange an. »Aha«. Nach einem weiteren, ungläubigen Blick auf ihre langen Beine in der engen, hellblau verwaschenen Jeans, schüttelte er den Kopf. »Ne, also, darauf wäre ich nie gekommen. Du wirkst, sorry jetzt, aber echt irgendwie zu, naja, zu nett? Medizin oder Sozialwissenschaften, okay, aber Wirtschaftspsychologie? Gehörst du zu den McKenzie-Jüngern?« Thomas lachte beschwichtigend, als er Eles ausdruckloses Gesicht sah, und legte seine Hand kurz, wie prüfend, auf ihren Oberschenkel. »Nein, nein, schon gut. Ich glaub’s dir. Wahrscheinlich auch die bessere Wahl als meine. Ich studiere Tiermedizin und verbringe meine Nächte vermutlich in Kuhställen und nicht auf Parties in München.« 

Ele stimmte in Thomas aufmunterndes Lachen mit ein. »Wahrscheinlich hast du Recht, aber ich kann dich ja anrufen, falls ich mir mal einen Hund zulegen sollte.« Bei dem Gedanken an den Hund öffnete sie leicht das Fenster. Eine frische Brise strömte herein und kühlte ihre Stirn, die sie gegen die Scheibe lehnte. Die Landschaft flog an ihren Augen vorbei bis die ersten Hinweisschilder für Rüsselsheim auftauchten. »Es sind nur noch zwanzig Kilometer bis Rüsselsheim. Muss Matz da nicht raus?« 

Thomas schaute auf sein Navi. »Du hast Recht. Und ich soll ihn auf dem Parkplatz davor absetzen. Mensch, da ist der ja schon … Matz? Matz! He, Mann, du musst hier raus.« Thomas setzte bereits den Blinker, als Matz endlich die Kopfhörer abnahm und griffbereit in den Nacken schob. 

»Ja, ja schon gut. Lass mich gleich hier am Anfang raus, da steht schon mein Bruder.« Geradeaus war ein alter, roter Ford Fiesta zu sehen. Matz zog einen zerknüllten 20 Euro Schein aus seiner Jeans. »Voll korrekt, dass du gefahren bist. Hier dein Geld. Man sieht sich, Mann.« Erstaunlich gelenkig stieg er samt Rucksack aus dem Auto und Bombadil streckte sich mit einem genüsslichen Grunzen auf der Rückbank aus. 

Ele schmunzelte. Vor dem musste sie wirklich keine Angst haben. Sie drehte sich zu Thomas um. »Hör mal Thomas, kannst du mich schon vor Bonn absetzen? Ich muss noch nach Gelsdorf, das ist am Kreuz Meckenheim.« 

»Ja, klar doch, kein Thema. Holt dich da dein Vater ab, oder dein Freund?« 

Ele schaute ihn nicht an. »Nein, dort wohnt eine Freundin von mir, die hat mir ein Geschenk besorgt. Mein Vater ist gerade fünfzig geworden.« 

Thomas schwenkte auf die Überholspur und beschleunigte. »Hmm, Gelsdorf, kenne ich die vielleicht? Ein Kumpel von mir wohnt da.« 

»Bestimmt nicht, die ist erst vor kurzem dort hingezogen. Sie heißt Rosa.« 

Thomas überlegte kurz. »Tja, die kenn ich tatsächlich nicht. Aber der Name erinnert mich an was.  Ist da nicht ein Mädchen verschwunden, das so heißt?« 

Ele schüttelte den Kopf und holte ihr Handy raus. »Nein, kann nicht sein, wir haben gestern Abend noch telefoniert. Sie kommt mich bestimmt gleich abholen.« Thomas zuckte mäßig interessiert mit den Schultern und drehte die Musik ein wenig lauter. »Ich hab Zeit, wenn du willst, kann ich mit dir warten.«

Ele ging ein weiteres Mal die Buchreihe entlang und las die Buchtitel aufmerksamer. Sie wusste nicht genau, wonach sie suchte, aber viel mehr Möglichkeiten gab es in dieser Wohnung nicht. Bei Herr der Ringe stockte sie und versuchte, sich an Details der Geschichte zu erinnern. Die Orte, die Personen – Gollum und die anderen Helden. Ihr persönlich hatte Boromir am besten gefallen. Der war nicht ganz so perfekt wie die anderen Helden. Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. ›Natürlich‹, dachte sie. ›Das ist es.‹ 

Bombadil. Tom Bombadil. Einer der Hobbits, wenn auch einer, den sie im Film raus geschnitten haben. Aber egal. Bombadil war ein starker Name, besonders wenn er zweimal auftauchte. Mal sehen, ob das das Passwort für Thomas Rechner ist. 

Schnell fuhr sie den Rechner wieder hoch und wartete auf die Aufforderung für das Passwort. Systematisch startete sie unterschiedliche Schreibweisen, als erstes nur Kleinbuchstaben. … bombadilBOMBADILBombadilBOMbadil … Ein sich drehender Kreis erschien. Ele grinste breit. Sie hatte es mal wieder geschafft. Zufrieden fischte sie ein paar Chips aus der Tüte und kaute sie genüßlich, während sie auf das Startmenü wartete. Google Browser, Google Apps, Google Mail. Wunderbar, alles da, alles angemeldet. Konzentriert las sie die ersten Emails, fand aber nichts Besonderes. Dann suchte sie nach Emails mit dem Stichwort Mitfahrzentrale und löschte die vier Einträge, ohne sie zu lesen. 

Das Suchwort Passwort ließ sie über alle Emails laufen… nichts … Passwörter … auch nichts … password … das Suchprogramm lieferte drei Emails mit diesem Suchbegriff. Bei einem stand ›Sparkasse‹ im Betreff und zeigte zusätzlich den Nummerncode der Geldkarte.

Ele strahlte wie ein unschuldiger Engel und freute sich an der Einfallslosigkeit ihrer Mitmenschen. Sie machten es ihr einfach, manchmal zu einfach. Ihr fehlte die Herausforderung, aber sie wollte sich nicht beschweren. Zufrieden lächelnd aß sie die restlichen Chips und überlegte an ihrem Zeitplan. Es war bald zehn Uhr abends. Zu spät, um noch einen Bankomaten zu suchen. Gleich würde es richtig dunkel werden und das mochte sie nicht. Dunkelheit machte ihr Angst, schon immer oder zumindest seit sie zwölf Jahre alt war und ihr Stiefvater sie jeden Abend ins Bett brachte, das Licht verlöschte, ihr den Mund zuhielt, und sie erst danach weinen durfte. Morgen früh ist noch früh genug. Sie fühlte sich in Thomas’ Wohnung erstaunlich sicher und wollte noch ein paar Kleinigkeiten erledigen, bevor sie ihre Zelte hier abbrechen konnte.

Sie loggte sich auf der Seite der Mitfahrzentrale Bonn ein und ging in Ruhe die Angebote nach München durch. Auf der dritten Seite fand sie ihn. René, zwei Leute bisher, Ford Focus, Treffpunkt morgen früh, acht Uhr, Bonn-Duisdorf, vor dem großen Einkaufszentrum in der Fußgängerzone. Perfekt. Ele wusste bereits, dass es dort einen Bankomaten gab, Google Maps sei Danke. Zügig tippte sie den Namen René, Bonn, Student, Juridicum bei facebook ein. Bereits das dritte Profil war ein Treffer. Neben der Mitfahrzentrale war René mit unterschiedlichen Studi-Portalen verbunden. Seine über siebenhundert Freunde schienen überwiegend weiblich zu sein. ›Wieder ein Frauenheld, wie passend‹, dachte sie und ein zufriedener Schauer überkam sie.  Schnell trug sie auf der Mitfahrzentrale-Seite die erforderlichen Daten ein, loggte sich anschließend aus und streckte ihren Rücken beim Aufstehen. Der fast vollständige Mond zog sie hinaus auf dem Balkon. In seinem Licht konnte sie das Getreide erkennen, wie es sich jetzt im Abendwind, unbeschwert von der Hitze des Tages, beugte. Hinten, auf den schmalen, asphaltierten Wegen zwischen den Feldern, erkannte sie schemenhaft Menschen, die mit ihren Hunden eine letzte Runde gingen. Ob sie Bombadil wohl nochmal sah?

»Schau mal, hier kannst du schon abfahren. Wenn du dann unten links abbiegst, kommst du auf einen Firmenparkplatz. Da ist jetzt keiner mehr, du kannst da bedenkenlos parken.« 

Thomas nickte, nahm den Fuß vom Gas und folgte Eles Anweisungen. Der Firmenparkplatz lag auf einer Anhöhe. Neben dem dunklen Gebäude sah man eine ungemähte Wiese und dichtes Gestrüpp. Thomas hielt an, stieg aus und öffnete Bombadil die Türe. Dieser streckte sich zunächst, bevor er langsam vom Rücksitz und durch die Autotür kletterte. Ein kurzer Sicherheitsblick zu Thomas und schon war die Wiese entdeckt, auf die er schwanzwedelnd zulief.  Thomas schmunzelte. »Lauf mal du Guter, du hast echt lang durchgehalten.« Er drehte sich zu Ele. »Komm, lass uns hinterher gehen. Ich weiß nicht, was nach der Wiese kommt, nachher erschreckt er noch jemanden.« Neugierig sah er sie an. »Wo ist eigentlich deine Freundin? Wollte sie nicht schon hier sein und auf dich warten?«

»Ja, wollte sie. Ich hab sie schon angetickert, sie ist bestimmt gleich da.« Sie entfernte sich etwas von Thomas, der an sie herangetreten war. »Am Ende ist übrigens ein total schöner Bachlauf. Allerdings ziemlich tief, kann dein Hund schwimmen?« Besorgt schaute sie Thomas an und vergrößerte den Abstand zu ihm, indem sie dem Hund folgte, der in diesem Moment außer Sichtweite lief und kurz danach aufjaulte. 

Thomas hechtete los. «Mensch, was ist das denn?«, rief er in Richtung Ele, die hinter ihm lief. »Scheiße nochmal, das ist kein Bach, das ist eine Brücke. Bombadil, wo bist du?« Entsetzt rannte er am Schutzgeländer der Brücke entlang und beugte sich an einer Stelle über das Geländer, als er glaubte, etwas in dem dornigen Gestrüpp darunter bemerkt zu haben. Doch neben dem Gestrüpp sprudelte nur dunkles Wasser um ein paar Steinbrocken herum, aus denen Reste von Eisengitter ragten. Kein Bombadil. »Ele, hilf mir. Ich muss über das Geländer klettern, bestimmt ist Bombadil da runter gefallen.« 

Ele nickte, mit der Hand in ihrer hinteren Jeanstasche. Als sie Thomas verzweifeltes Gesicht sah, zögerte sie kurz, doch ihr Gesichtsausdruck blieb entschlossen. Mit geübten Griff zog sie das Pfefferspray aus ihrer Hosentasche und sprühte es ohne weiteres Zögern Thomas voll ins Gesicht. Völlig überrascht schrie Thomas auf und schlug mit einer Hand nach Ele, während die andere versuchte, seine Augen zu schützen. Blind vor Schmerzen stieß er gegen das Geländer. Ele musste nicht viel nachhelfen, damit er über das Geländer kippte. Bereits am Geräusch des Aufpralls erkannte sie, dass er mit dem Kopf auf einen der Steine gefallen war. Kein Schmerzensschrei. Nur Stille. Bis auf das Vogelgezwitscher vor und das Hecheln von Bombadil hinter ihr.

Ele hatte alles gepackt. Die Plastiktüte mit den Abfallresten, ihre säuberlich beschriebenen Notizzettel, der Ringbuchblock, sieben unterschiedliche Bankkarten, warteten darauf, mit ihr die Wohnung für immer zu verlassen. Neben Bad und Küche waren alle Türgriffe, Möbeloberflächen sowie das Balkongeländer sorgfältig geputzt und der Lappen sicher in der Tüte entsorgt. Einen Impuls folgend, öffnete sie den Browser auf Thomas Rechner und öffnete die facebook App. Die automatische Anmeldung war aktiviert und als erstes sprang ihr eine blaue ›128‹ entgegen. So viele Postings hatte er wohl verpasst oder ignoriert. Neugierig ging sie die ersten Postings durch und blieb bei dem Bild einer brünetten, strahlend lächelnden Frau hängen. Ihr Name war Rosa. Man hatte sie in der Porz-Wahner Heide gefunden und ein Verbrechen war nicht auszuschließen. Sie drückte den Gefällt-mir-Button, schloss alle Programme und löschte den Browserverlauf. Dann fuhr sie den Rechner herunter, wischte die Tastatur mit einem feuchten Kleenex sauber und setzte sich auf die Couch. Sie hatte noch ein paar Stunden, bevor sie los musste. Sie wollte sich ausruhen. Kurz bevor sie einschlief, lächelte sie. Zumindest würde sie die Wohnung morgen früh sauber verlassen.